Bisher

Regina Duerig

Die Schriftstellerin Regina Dürig war im Juli 2022 zu Gast im Hotel Regina und hat während dieser Zeit hauptsächlich an ihrem Projekt «sehen | üben» gearbeitet.

www.reginaduerig.ch
www.butterland.ch

Sehen | üben – Handlungsanweisung

«Richte Tisch, Stuhl, Stift, Papier so aus, dass dein Blick direkt auf den Berg fällt.
Lege für später ein Heft bereit.
Nimm dir eine Stunde.
Sehe in dieser Stunde den Berg.
Wenn du etwas notieren musst, tue es, ohne den Blick aufs Papier zu senken.
Wiederhole diese Übung einen ganzen Monat lang täglich.
Achte darauf, dass die Ausrichtung des Blicks sich in dieser Zeit nicht ändert.
Die Uhrzeit ist frei wählbar, solange es während der gesamten Stunde Tageslicht gibt.
Bemerke die Veränderungen des Gesehenen und des Sehens.
Bemerke die Veränderungen des Sehnens.
Wähle aus den Notizen einen oder mehrere Sätze aus, die du in ein Heft überträgst.
Das Heft ist die Spur deiner Augen.
Trage es, wann immer du wach bist, bei dir.»

Aus dem Heft

3.7. Fast unmöglich, in den Schatten der Wolken auf den Berghängen keine Wesen zu sehen: ein Nashorn, ein feuchter Küsser, ein Pfandleiher, eine Fledermaus.

5.7. Gegensätze schmiegen sich an

6.7. Wächst aus jedem Stein im Lauf der Äonen ein Gebirge heran?

9.7. Eine schüchterne Differenz, eine wankelmütige Ferne, eine fossile Zumutbarkeit, ein Herz aus Flüchtigkeitsfehlern

16.7. Der Wald auf Halbmast / die Dohlen reglos im Fall / eine Parade unbemannter Zornesengel / auf dem milchig-trüben Grenzgebiet / zwischen Glaube und Vernunft

19.7. Die Augendeckel der Gletscher raspeln sich auf am Geröll / jedes Blinzeln zerrt an ihrem Glauben an Aussicht und Überblick, an der hochalpinen Logik generell

20.7. Ein Rotschwänzchen jagt durch den Garten / es krallt sich fest am Fensterbrett / für einen kleinen Moment erschrecken wir beide / dann plustern wir uns zurecht / «Ziviler Ungehorsam, was kann uns der noch nutzen», fragt es, «wenn andere über das bestimmen, was wir glaubten zu sein». / dann sprengt Donner die Aussicht weg und nimmt den Vogel fort / mich nicht / ich sehe noch, wie ein Blitz den Garten in zwei Hälften reißt: / ein Davor und ein Danach

21.7. Tannen wie Messerklingen im Nebel, als setzten sie sich gegen Eindringlinge zur Wehr oder gegen Waldgeister ohne Sinn für Humor

30.7. Ein Berg sein wollen: schroff und standhaft, geduldig und gross, erhaben und ehrlich, zerklüftet und stolz

31.7. Wolkenloser Abschied von einem unmissverständlichen Jahrzehnt

CV

*1982 in Mannheim, lebt und arbeitet in Biel. Sie ist Autorin, Performerin und Dozentin/Mentorin für literarisches Schreiben, u. a. an der Hochschule der Künste Bern und der Volkshochschule Biel. Sie schreibt Hörspiele, lyrische Prosa, Kinder- und Jugendbücher und interessiert sich für experimentelles Übersetzen. Kollaborationen mit anderen Diziplinen sind zentraler Teil ihrer künstlerischen Praxis, insbesondere das Duo Butterland. Während ihrem Artists in Residence Aufenthalt im Hotel Regina hat die Autorin vor, sich im Rahmen der experimentellen Schreibanordnungsehen I üben mit einer verdichteten Form des Schauens und Notierens auseinanderzusetzen: «Richte Tisch, Stuhl, Stift, Heft so aus, dass dein Blick direkt auf den Berg fällt. Nimm dir zwei Stunden. Bemerke die Veränderungen des Gesehenen und des Sehens. Bemerke die Veränderungen des Sehnens. Das Heft ist die Spur deiner Augen. Trage es, wann immer du wach bist, bei dir.» Ausserdem wird sie für die Gäste des Hotels kurze Schreib- und Lesungsformate anbieten.

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